
Viele Unternehmen experimentieren bereits mit KI, doch nur selten entsteht daraus ein nachhaltiger Geschäftserfolg. Häufig liegt das an der fehlenden strategischen Verankerung von AI als echte Unternehmensfähigkeit. Im Interview erklärt Dr. Dirk Franssens, Director bei ECC CLUB Mitglied elaboratum, wie der Sprung vom unverbindlichen Pilotprojekt zur skalierbaren, wertschöpfenden KI-Fähigkeit gelingt.
Viele Unternehmen nutzen heute GenAI-Tools, aber nur wenige schaffen damit messbaren Erfolg. Sie sprechen vom „AI-Umsetzungs-Gap“. Wo genau liegt das Problem – ist es die Technik, die Strategie oder der Mensch?
Das Problem ist die fehlende Übersetzung. Die Technologie ist zugänglich, die strategischen Ziele sind oft formuliert und die Mitarbeitenden sind neugierig. Aber die Brücke zwischen einer guten Idee und einem stabilen, alltäglichen Geschäftsprozess wird nicht gebaut.
Unternehmen investieren in Lizenzen für KI-Tools, aber die Arbeit wird weiterhin so erledigt wie immer. Ein Marketing-Team experimentiert begeistert mit einem Bildgenerator, aber der offizielle Prozess zur Erstellung von Kampagnen-Visuals bleibt unangetastet. Das ist der „AI-Umsetzungs-Gap“ in der Praxis: Die KI bleibt ein Add-on, ein Fremdkörper, statt Teil des betrieblichen Organismus zu werden. Es ist im Kern kein Technologie-, sondern ein Management- und Operations-Problem.
Stell dir vor, du könntest bei einem typischen Handelsunternehmen eine einzige Sache sofort ändern, um die AI-Adoption zu beschleunigen. Was wäre das – und warum hat genau diese eine Sache den größten Hebel?
Ich würde sofort eine Regel einführen: Jede KI-Initiative braucht einen "Process Owner" aus dem Fachbereich – keine "Projektleitung" aus der IT oder einem Innovationsteam.
Der Hebel ist deshalb so gewaltig, weil er das fundamentalste Missverständnis korrigiert: KI ist kein Software-Update, das man installiert. KI verändert, wie gearbeitet wird. Daher muss die Person die Verantwortung tragen, die auch für das Geschäftsergebnis dieses Prozesses verantwortlich ist. Der Leiter des Kundenservice muss dafür brennen, den neuen KI-Chatbot besser zu machen – nicht ein IT-Projektleiter, für den das Ticket nach der Implementierung geschlossen ist. Wenn der Fachbereich nicht der Treiber ist, bleibt jede KI-Lösung eine gut gemeinte, aber letztlich irrelevante technische Spielerei.
Vom Pilotprojekt zur unternehmensweiten Fähigkeit – das ist der große Sprung. Wie verhindert man, dass gut gemeinte Initiativen wie „Prompthathons“ oder einzelne Chatbots im ‚Innovations-Theater‘ enden und nie die Kernprozesse erreichen?
Das „Innovations-Theater“ ist die größte Falle. Man verhindert es mit drei ganz pragmatischen Regeln, die jede spielerische Initiative in ein verbindliches Vorgehen überführen:
- Problem zuerst, Tool danach. Nie mit der Frage starten: „Wo können wir KI einsetzen?“. Immer fragen: „Welcher Prozess kostet uns am meisten Zeit, Geld oder Kundenvertrauen?“ Im E-Commerce sind das oft die manuelle Bearbeitung von Retouren oder das umständliche Erstellen von Produkttexten. Genau dort liegt der Hebel für KI.
- Kein Owner, kein Projekt. Das knüpft an meine vorherige Antwort an. Eine KI-Initiative ohne klaren Verantwortlichen aus dem Fachbereich ist von Anfang an dem Tode geweiht. Diese Person muss den Hut aufhaben – vom Test bis zur finalen Integration in den Arbeitsalltag des Teams.
- Erfolg knallhart definieren. Legen Sie vorher fest, was ein Erfolg ist, und zwar in Zahlen. Heißt es „Die Bearbeitungszeit für eine Retourenanfrage sinkt von 8 Minuten auf 90 Sekunden“ oder „Produkttexte für eine neue Kollektion werden in 3 Stunden statt in 3 Tagen erstellt“? Nur mit einer solchen Messgröße kann nach drei Monaten klar entschieden werden: skalieren oder stoppen.
Erfolg messbar machen ist oft der Knackpunkt. Kannst du ein konkretes Beispiel geben? Welcher KPI zeigt bei einem KI-Projekt im E-Commerce wirklich den Erfolg an – und welcher ist nur eine „Vanity Metric“?
Ein klassisches Beispiel sind KI-gestützte Produktempfehlungen im Onlineshop.
- Die Vanity Metric (der oberflächliche Wert) wäre die „Anzahl der Klicks auf die empfohlenen Produkte“. Das sieht im Reporting gut aus, sagt aber nichts über den Geschäftserfolg aus. Ein Klick ist kein Kauf.
- Der wertvolle KPI (der geschäftsrelevante Wert) ist der „Anteil des durch KI-Empfehlungen generierten Umsatzes am Gesamtumsatz“ oder die „Steigerung des durchschnittlichen Warenkorbwerts bei Kund:innen, die mit den Empfehlungen interagieren“.
Der Unterschied ist fundamental: Die Vanity Metric misst nur die Aktivität des Systems. Der wertvolle KPI misst den direkten Beitrag zur Wertschöpfung des Unternehmens. Wenn die KI nicht auf die zentralen Geschäftsziele einzahlt, wird nur eine Beschäftigungsmaßnahme optimiert.
Blicken wir drei Jahre in die Zukunft, ins Jahr 2028: Was wird das Handelsunternehmen, das AI-Adoption gemeistert hat, fundamental anders machen als die Konkurrenz, die immer noch in einzelnen Tools und Experimenten feststeckt?
Der fundamentale Unterschied liegt in der Geschwindigkeit und der Qualität der Entscheidungen.
Das Gewinner-Unternehmen in 2028 wird AI nicht als separates „Tool“ betrachten. Dort werden KI-Assistenten für alle Wissensarbeiter:innen so selbstverständlich sein wie heute der Taschenrechner. Eine Marketingkampagne wird nicht mehr in sechs Wochen geplant, sondern an einem Vormittag entworfen, von KI-Agenten in dutzende Varianten übersetzt, ausgesteuert und in Echtzeit optimiert. Der Mensch agiert als Stratege und Dirigent, nicht mehr als ausführender Sachbearbeiter.
Die Konkurrenz wird währenddessen immer noch darüber diskutieren, welches KI-Tool man als Nächstes in einem unverbindlichen Piloten testen könnte. Sie werden in Meetings sitzen und manuelle Analysen fahren, während das andere Unternehmen bereits die dritte Iteration seiner KI-gestützten Kampagne am Markt hat.
Der Unterschied liegt am Ende also nicht in der besseren Technologie, sondern in der überlegenen organisationalen Fähigkeit, diese Technologie zur Wertschöpfung zu nutzen. Es ist ein Wettlauf der Adaptionsfähigkeit, kein Wettlauf der Technologie.






