Die sieben Regeln zu Vitalisierung der Innenstädte sind abgeleitet aus der Untersuchung VITALE INNENSTÄDTE 2024 mit Hinweisen aus 69.000 persönlich geführter Interviews in über 100 Innenstädten. Besuchsfrequenz und Besucherbewertung sind maßgebliche Kenngrößen für erfolgreiche Vitalisierung von Innenstädten. Mit dem ehrlichen Feedback der Kernzielgruppe – den Besucher:innen der Innenstadt – sind empirisch fundiert Ansätze und Strategien zu entwickeln, um unsere Innenstädte zu vitalisieren und zu attraktivieren. Nachdem es im ersten Teil unserer Blogserie um die verschiedenen Zielgruppen in der Innenstadt ging, widmet sich Teil 2 dem Thema Multifunktionalität.

IFH KÖLN Geschäftsführer und Innenstadtexperte Boris Hedde.
Strukturwandel und Digitalisierung haben einen selten gesehen Veränderungsdruck im Handel erwirkt – nicht ohne Folgen für Innenstädte. Die vormals mit der jahrzehntelagen positiven Handelsentwicklung fast vollständig monofunktional auf Handel ausgerichteten Innenstadtlagen stehen vor oder inmitten lokaler Transformation. Der Rückgang an benötigter Handelsfläche und der Marktaustritt vieler Handelsgeschäfte und filialisierter Handelsketten zwingen bundesweit dazu, Innenstädte lokal neu zu denken. Im Kern steht die Frage nach den Funktionen, die Innenstädte für Bürger:innen und Besucher:innen zukünftig bedienen sollen.
Aus Gesprächen mit Kommunalverantwortlichen ist bekannt, dass einige Innenstädte sogar Zukunft ohne Handel planen. Andere innerstädtische Funktionen sollen dort den Handel ersetzen und eine komplette Neuausrichtung zur Folge haben. Aber ist das der richtige Weg?
1. Hauptmotive für Innenstadtbesuche – Handel heute weiterhin vorn
Wir haben uns im Rahmen der „Vitalen Innenstädte 2024“ angeschaut, welche Motive die jeweils angetroffenen Besucher:innen in die Innenstädte bewegen. In den über 100 untersuchten Innenstädten ist Einkaufen, Einkaufsbummel und Shopping noch immer das Besuchsmotiv Nummer 1 – in allen Regionen und in allen kleinen, mittelgroßen und großen Innenstädten. Auch im Zeitverlauf während und nach der Coronapandemie hat sich dies empirisch belegbar nicht verändert.
Schon aus dieser Erkenntnis heraus sind zumindest für die nähere Zukunft Innenstadtstrategien ohne Handel, welche Besuchsfrequenz und Aufenthaltsdauer zum Ziel haben, wenig empfehlenswert. Vielmehr sollte hinterfragt werden, mit welchen Handelskonzepten das mit den Zahlen nachweislich bestehende Interesse von Besucher:innen bedient werden kann.
In den letzten zehn Jahren sind wie selten zuvor unterschiedliche, neue Formate und Konzepte im Handel entstanden, sodass bei Gestaltung von Innenstädten nicht Handel als Funktion in Frage gestellt werden sollte, sondern vielmehr lokal anzutreffende Geschäftsmodelle. Oftmals bedienen diese noch ein Handelsverständnis, welches mehr auf Produkte, denn auf Zielgruppen ausgerichtet ist. Noch immer sehen sich viele Handelsgeschäfte als Fachexperten für bestimmte Sortimente – dabei wäre es wichtiger, sich mehr als Fachexperte für Zielgruppen und deren Erwartungen zu positionieren.
Hier besteht eine Chance für Innenstädte, Quartiere oder Einkaufsstraßen. Denn gemeinsam definierte Zielgruppen zu adressieren, kann ein Schlüssel sein, um einzelne Geschäfte wirtschaftlich tragbar aufzustellen. Ausdrücklich nicht gemeint sind lokale Onlinemarktplätze, die zumeist gerade nicht auf spezifische Zielgruppen ausgerichtet sind, sondern versuchen, den lokalen Charakter der Anbieterseite oder örtlich vermarktete Sortimente in den Fokus zu nehmen.

2. Gastronomie – im Funktionenvergleich mit größtem Bedeutungszuwachs
Handel ist zwar weiterhin Besuchsmotiv Nummer 1, gleichwohl ist festzustellen, dass der Gap zu anderen Besuchsmotiven kleiner wird. Entsprechend sind auch andere Funktionen genauer in die Betrachtung zu nehmen – Gastronomie, Dienstleistung, Freizeit, Arbeiten und Wohnen.
Aus unserer Passanten-Befragung ergeben sich spannende Erkenntnisse: Die Gastronomie gewinnt als Anlass für einen Innenstadtbesuch seit der Pandemie stetig an Relevanz. Seit 2020 hat sich die Nennung als aktueller Besuchsgrund nahezu verdoppelt. Auch im Vergleich zu anderen Innenstadtfunktionen ist dies mehr als deutlich. Im Vergleich zu anderen Funktionen der Innenstadt ist dieser Zuwachs besonders markant und sticht deutlich hervor.
Dies mutet umso erstaunlicher an, weil gerade die Gastronomiebranche seit der Pandemie und Energiekrise besondere Herausforderungen in puncto Preisentwicklung und Personalengpass zu meistern hatte. Das Potenzial mit dem Thema Gastronomie Innenstadtbelebung zu erwirken, ist nachweislich gegeben.
Auch andere Innenstadtfunktionen sind zu erwähnen. In vielen Kommunen besteht die Hoffnung mit Kunst und Kultur drohender Verödung entgegenzutreten. Doch als Besuchsmotiv erhält dieses Thema im Antwortverhalten der Innenstadtbesucher:innen vergleichsweise wenig Zustimmung. Erklären lässt sich dies damit, dass zum Zeitpunkt der Erhebung – im Herbst letzten Jahres – innerstädtisch und gegenwärtig naturgemäß wenig Angebot gegeben war. Es soll ja erst noch kommen. Umso spannender wird es sein, in den nächsten Jahren zu prüfen, ob sich die Hoffnung mit Kunst und Kultur für die Zukunft zu punkten, bestätigen wird.
Mit der Funktion Wohnen verhält es sich ähnlich. Auch wenn in vielen Innenstädten Wohnen angestrebt ist, sind gerade in größeren Kommunen noch Zeiträume abzuwarten, die benötigt werden, um überhaupt ein nutzbares Angebot sicherzustellen.
3. Blick in die Zukunft – was jüngere Innenstadtbesucher:innen motiviert
Ein Blick in die Zukunft von Innenstädten gelingt, indem die Sichtweise junger Zielgruppen als zukünftig wirtschaftlich relevante Zielgruppen beleuchtet wird. Hier zeigt sich, dass das Ranking zur Bedeutung von Innenstadt-Besuchsmotiven dem des Altersdurchschnitts ähnelt. Gleichwohl verliert die Funktion Handel überproportional im Zeitverlauf. Hiermit wird abermals unterstrichen, dass es neue innovative Konzepte in Handel und Gastronomie braucht, um dem Lifestyle zukünftiger Innenstadtbesucher:innen zu bedienen.
Um die Zielgruppe heute nicht vorzeitig für die Innenstadt zu verlieren, sind neue Angebote für junge Menschen innerstädtisch zu verorten. Diese Angebote werden nicht immer kommerzieller Natur sein, sondern dem Wunsch nach Freizeit, Gesellschaft und gemeinschaftlichem Erleben entsprechen müssen. Deshalb ist gerade für jüngere Zielgruppen Gebot der Stunde, neue Konzepte zu testen und über Pilotierung aktiv zu lernen. In Homburg an der Saar wurde exemplarisch ein Projekt unter dem Titel „HOMie“ angestoßen, wo ein Leerstand genutzt wird, um Neues für die lokale Jungend auszuprobieren. Die Bedeutung von Jugendprojekten wird dadurch deutlich, dass dieses Projekt gerade einen bundesweiten Pionierpreis gewonnen hat.
Fazit: Erfolgreich multifunktional heißt nicht Innenstadt ohne Handel … im Gegenteil
Die Analyse zeigt: Handel ist nicht alles, aber ohne Handel ist heute alles Nichts. Wer ohne Handel kurzfristig Innenstädte plant, verliert nicht nur Potenzial, sondern riskiert Besuchsfrequenz und Aufenthaltsdauer. Ander als früher darf Innenstadt aber nicht allein von Handel geprägt sein. Andere Funktionen sind auf dem Vormarsch und es wird nur dort erfolgreiche Innenstadtstrategien geben, wo unterschiedliche Funktionen gleichzeitig bedient – besser noch verzahnt werden. Einzelne Innenstadtbesuche sind im Sinne der Zielgruppen aufzuwerten. Entsprechend wichtig wird es dabei sein, Kopplungseffekte bei Funktionen und Besuchsmotiven erfolgreich zu nutzen. Besucher:innen, die zum Einkaufen kommen, gehen vielleicht auch gerne etwas essen oder besuchen Kunst und Kultur.
Als IFH KÖLN freuen wir uns, hier in diesem Prozess der Erneuerung empirisch fundiert zu unterstützen und aktiv mit Innovations- und Pilotprojekten Beitrag zu leisten.
Weitere Infos finden Sie in unserer Studie "Vitale Innenstädte 2024".